Tierschutzgesetz: Was ist ein „vernünftiger Grund“?

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Tierschutzgesetz: Was ist ein „vernünftiger Grund“? Prof. Dr. Luy

Gesellschaft verändert sich und mit ihr die Vorschriften, die sie braucht und schafft. Vor dem Hintergrund wachsenden Wissens führt Erkenntnis auch zur Hinterfragung der bisherigen Rechtsprechung. Darum ist es notwendig, deren Grundlagen immer wieder neu zu untersuchen, zeitgemäßer zu denken, zu definieren, zu interpretieren. Was 1972 noch als “vernünftiger” Grund vor dem Gesetz Bestand hatte, kann heute fraglich sein angesichts veränderter Voraussetzungen und der immer dringlicheren Notwendigkeit zum Umdenken, die bspw. die Klimaveränderung uns diktiert. Über eine veränderte Perspektive auf den ersten Paragraphen des Tierschutzgesetzes und seine Einschätzung der daraus erwachsenden Konsequenzen für die Zukunft sprachen wir mit Prof. Dr. Jörg Luy, dem Leiter des Berliner Forschungs- und Beratungsinstituts für Tier-, Natur- und Umweltethik INSTET.

Das Tierschutzgesetz (TierSchG) verbietet Schmerzen, Leiden oder Schäden des Tieres, die sich nicht durch einen „vernünftigen Grund“ rechtfertigen lassen. Aber was wird vor Gericht als vernünftiger Grund anerkannt? Darüber und über seine Einschätzung der künftigen Entwicklung sprachen wir mit Prof. Dr. Jörg Luy. Der Philosoph und Fachtierarzt für Tierschutz promovierte über den vernünftigen Grund der Tiertötung und leitete bis zur Gründung des INSTET im Jahr 2013 das Institut für Tierschutz und Tierverhalten der Freien Universität Berlin.

TierSchG, erster Abschnitt – Grundsatz

§1: Zweck dieses Gesetzes ist es, aus der Verantwortung des Menschen für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen. Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen.

Interview mit Professor Dr. Jörg Luy

ATN: Herr Professor Luy, wie muss man sich den „vernünftigen Grund“ des Tierschutzgesetzes vorstellen?

Luy: Die Rechtsprechung und die Kommentarliteratur zum Tierschutzgesetz betonen einhellig, dass dieser Begriff stellvertretend für zwei sehr vernünftige allgemeine Rechtsgrundsätze steht. Der Grundsatz des Tierschutzgesetzes, „niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen“, besagt, dass beabsichtigte oder in Kauf genommene Schmerzen, Leiden oder Schäden eines Tieres dann rechtswidrig sind, wenn sie gegen einen dieser beiden allgemeinen Rechtsgrundsätze verstoßen.

ATN: Das bedeutet dann aber doch, dass Menschen, die sich beruflich oder in ihrer Freizeit mit Tieren beschäftigen, diese zwei Rechtsgrundsätze kennen sollten, oder?

Luy: Stimmt. Dass die beiden Grundsätze im Gesetz nicht erklärt werden, ist zweifellos ein Defizit. Aber wir können das hier nachholen. Der erste Grundsatz ist der „Grundsatz der Erforderlichkeit“. Er besagt: Belastungen, die nicht erforderlich sind, sind vermeidbar; und vermeidbare Belastungen lassen sich nicht rechtfertigen. Dieser Grundsatz ist insofern sehr vernünftig bzw. einleuchtend, als wir im Alltag unangenehme Tätigkeiten, über die Einigkeit besteht, dass sie nicht erforderlich sind, selbst unterlassen und auch von anderen nicht einfordern. Denn wenn eine unangenehme Tätigkeit gar nicht erforderlich ist, braucht man niemanden damit zu belasten. Das leuchtet allgemein ein.

ATN: Was ist die Konsequenz daraus?

Luy: Für den Umgang mit Tieren werden durch diese grundsätzliche Überlegung Alternativmethoden sehr wichtig. Das Tierschutzgesetz schreibt deshalb vor, dass ein Tierversuch von der Behörde nicht genehmigt werden darf, wenn die Möglichkeit besteht, den gleichen Erkenntnisgewinn mit weniger oder ganz ohne Schmerzen, Leiden oder Schäden zu erlangen. Wissenschaftler müssen daher bei der Beantragung von Tierversuchen darlegen, dass es für ihre Forschungsfrage keine alternative Methode gibt, die ohne Tiere oder mit weniger Tieren oder mit weniger Belastungen auskommt. – Noch ein Beispiel: Unlängst wurde auch das Töten der sogenannten Eintagsküken höchstrichterlich mit dieser Begründung verboten: Sobald eine unter realen wirtschaftlichen Praxisbedingungen einsetzbare Alternative (Geschlechtsbestimmung im Ei oder Ausbrüten von Eiern aus verbesserten Zweinutzungslinien) verfügbar ist, müssen die Brütereien ihr Verfahren umstellen und die Kükentötung beenden. Mit dieser Situation wird für das Jahr 2020 oder 2021 gerechnet.

ATN: Inwieweit beeinflusst das die Arbeit von Trainern oder Verhaltensberatern?

Training von Tieren: immer mit den mildesten Methoden

Luy: Generell folgt aus dem „Grundsatz der Erforderlichkeit“, dass in Deutschland alle Menschen, die beruflich oder in ihrer Freizeit mit Tieren umgehen, durch das Tierschutzgesetz verpflichtet werden, ihre Ziele mit den für das Tier mildesten geeigneten Mitteln zu erreichen, auch wenn dadurch zusätzliche Kosten entstehen.

ATN: Kommen wir zu dem zweiten Rechtsgrundsatz, der sich hinter dem „vernünftigen Grund“ verbirgt.

Luy: Das ist der „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne“. Er besagt, dass die Inkaufnahme von Nachteilen, z.B. Schmerzen, Leiden oder Schäden bei Menschen oder Tieren, dann unverhältnismäßig und nicht zu rechtfertigen ist, wenn die Nachteile in einem Missverhältnis zu den Vorteilen stehen. Auch dieser Grundsatz entspricht unseren Alltagsentscheidungen. Denn immer, wenn wir ein wenig darüber nachdenken, rät uns unsere Vernunft, auf diejenigen Handlungsmöglichkeiten zu verzichten, bei denen die Nachteile größer sind als die Vorteile.

ATN: Und was besagt die Kombination der beiden Grundsätze?

Luy: Zusammengefasst wird aus beiden der „Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“, der nicht nur im Tierschutzgesetz, sondern im gesamten deutschen Recht sowie im EU-Recht eine überragende Rolle spielt.

aktiver tierschutz positiv verstaerkendes training fuehrt zu freudig arbeitenden hunden

Aktiver Tierschutz: Positiv verstärkendes Training führt zu freudig arbeitenden Hunden. (© Patricia Lösche)

ATN: Das von Ihnen angesprochene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zur Eintagskükentötung [Anm.: BVerwG 3 C 28.16 vom 13.06.2019] gilt heute als wegweisend zur Beurteilung der Frage, ob ein „vernünftiger Grund“ im Sinne des Tierschutzgesetzes vorliegt oder nicht. Können Sie uns an diesem Beispiel zeigen, welche Auswirkungen die beiden Rechtsgrundsätze für die schließlich schon seit mehreren Jahrzehnten Küken tötenden Brütereien haben?

Luy: Bis in die 1960er Jahre wurden Hühner als sogenannte Zweinutzungstiere gehalten. Das heißt, die Hennen legten zunächst Eier, und nach ihrer Schlachtung wurden sie als „Suppenhuhn“ genutzt; die Hähne wurden demgegenüber gemästet und endeten als „Brathähnchen“. Mit fortschreitender Leistungszucht wurde deutlich, dass es wirtschaftlich vorteilhafter ist, Hühner, die viele Eier legen, und Hühner, die ein schnelles Muskelwachstum haben, getrennt voneinander weiterzuzüchten. Dies führte schnell zu den heute vorherrschenden Hühnern, die entweder sehr schnell und muskulös wachsen (sog. „Broiler“) oder fast jeden Tag ein Ei legen (sog. „Legelinien“). Während bei den Broilern Hennen und Hähne gleichermaßen schnell an Gewicht zunehmen, sind die Hähne der Legelinien wirtschaftlich für die Mast ungeeignet, da sie kaum Muskelaufbau zeigen. Diese Hähne – die Brüder der Legehennen – werden daher seit den 1960er Jahren als sog. „Eintagsküken“ direkt nach dem Schlüpfen getötet. Mit zunehmendem Ei-Verzehr nahm auch die Zahl der getöteten Eintagsküken zu, gegenwärtig werden in Deutschland etwa 45 Millionen Eintagsküken pro Jahr gleich nach dem Schlüpfen entweder geschreddert oder vergast.

ATN: Bei 45 Millionen Küken pro Jahr stellt sich schon sehr nachdrücklich die Frage, ob hier ein „vernünftiger Grund“ vorliegt; denn bereits die Tötung eines einzigen Wirbeltieres ohne vernünftigen Grund stellt in Deutschland einen Straftatbestand dar. Wie konnte es passieren, dass so lange nichts dagegen unternommen wurde?

Luy: Die Veterinärbehörden und der Gesetzgeber haben diese Praxis jahrzehntelang hingenommen, zunächst ausgehend von der damaligen geringeren Gewichtung des Tierschutzes, später mangels Verfügbarkeit konkurrenzfähiger Alternativen. Das nordrhein-westfälische Landwirtschaftsministerium hat den rechtlichen Klärungsbedarf im Jahr 2013 erkannt und seine Veterinärbehörden angewiesen, den nordrhein-westfälischen Brütereien die Kükentötung mit einer Übergangsfrist von einem Jahr zu untersagen. Dies löste den Rechtsstreit aus, an dessen Ende nun die Rechtslage tatsächlich höchstrichterlich durch das Bundesverwaltungsgericht geklärt worden ist.

ATN: Wenn das Tierschutzgesetz die Wirbeltiertötung „ohne vernünftigen Grund“ bereits seit 1972 verbietet, es aber bis ins Jahr 2019 unklar war, ob die Eintagskükentötung mit oder ohne vernünftigen Grund erfolgt, wäre es spannend zu erfahren, wie das Gericht seine Entscheidung begründet hat.

Luy: Das Gericht sagt, die Frage, ob die Küken aus einem „vernünftigen Grund“ getötet werden, muss nach den gegenwärtigen Maßstäben eines ethischen Tierschutzes beurteilt werden; nicht maßgeblich sei demgegenüber, wie der Gesetzgeber das Kükentöten bei der Schaffung des Tierschutzgesetzes im Jahr 1972 bewertet hätte. Tatsächlich hat sich der damalige Gesetzgeber zwar gegen die Tötung überzähliger Hundewelpen ausgesprochen, aber zur Praxis der Kükentötung nichts gesagt. Für die Beurteilung anhand gegenwärtiger ethischer Maßstäbe brauche auch nicht ermittelt zu werden, so das Gericht, wie die heutige Bevölkerung das Töten der männlichen Küken bewertet. Es sei vielmehr offensichtlich, dass die Tötung von 45 Millionen Eintagsküken pro Jahr „dem ethisch ausgerichteten, das Leben als solches einschließenden Tierschutz, wie er dem Tierschutzgesetz zugrunde liegt, in fundamentaler Weise widerspricht“.

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Eintagskükentötung – mit oder ohne vernünftigen Grund? (© Countrypixel – stock.adobe.com)

Vernünftiger Grund – Verhältnismäßigkeitsprüfung gefordert

ATN: Hatte die Aufnahme des Tierschutzes in das Grundgesetz Auswirkungen auf die Beantwortung der Frage, ob ein „vernünftiger Grund“ vorliegt?

Luy: Ja, die im Jahr 2002 erfolgte Staatszielbestimmung hat dem Tierschutz mehr Gewicht bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung verliehen. Die Beantwortung der Frage, ob ein „vernünftiger Grund“ vorliegt oder nicht, ergibt sich aus der Durchführung der Doppel-Prüfung auf Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit; denn weder der Tierschutz noch die Interessen der Menschen haben per se Vorrang. Da man praxistaugliche Alternativmethoden bis zum Prozessende nicht kaufen konnte, fand im Küken-Prozess keine Prüfung auf Erforderlichkeit, sondern allein die Prüfung auf Verhältnismäßigkeit statt (das ist die Frage, ob die Vor- oder die Nachteile einer Praxis überwiegen). Bei dieser Prüfung sei der Tierschutz in der Zeit zwischen 1972 und 2002 geringer gewichtet worden als die wirtschaftlichen Interessen, sagt das Gericht. Seit der Verfassungsänderung im Jahr 2002 hängt nun die Latte für vernünftige Gründe höher.

ATN: Aber warum hat dann das Gericht die Kükentötung nicht mit sofortiger Wirkung verboten?

Luy: Durch die Aufnahme des Staatsziels Tierschutz in das Grundgesetz im Jahr 2002 wurde der gesellschaftliche Wertewandel tierschutzrechtlich wirksam. Seitdem hat der Tierschutz in Verhältnismäßigkeitsprüfungen mehr Gewicht. Das Gericht stellt deshalb fest, dass „nach heutigen Wertvorstellungen“ das Töten der männlichen Küken „für sich genommen“ nicht mehr auf einem vernünftigen Grund beruht. Da aber bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch die baldige Verfügbarkeit wirtschaftlich tragfähiger Alternativen zur Kükentötung (also Geschlechtsbestimmung im Ei oder Ausbrüten von Eiern aus verbesserten Zweinutzungslinien) zu berücksichtigen sei, läge für einen kurzen Übergangszeitraum doch noch ein „vernünftiger Grund“ für die Eintagskükentötung vor.

ATN: Bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung gemäß Tierschutzgesetz werden bislang die Nachteile (Schmerzen, Leiden und Schäden) der Tiere gegen die Vorteile der Menschen abgewogen. Diese utilitaristische Kosten-Nutzen-Abwägung ist nicht fair. Im zwischenmenschlichen Bereich wäre eine solche Abwägung der Vorteile einer Gruppe gegen die Nachteile einer anderen Gruppe zumindest in Deutschland verfassungswidrig. Wie sehen Sie das?

Luy: Als während der europäischen Aufklärung vor gut 200 Jahren die christlich geprägte Ethik Europas auf ein säkulares (d.h. kirchenunabhängiges) Fundament gestellt wurde, entstanden in der Philosophie zwei große, bis heute einander gegenseitig ablehnende Ethik-Schulen, die utilitaristische und die deontologische Ethik. Beide halten ihre Leitüberlegungen für vernünftig bzw. für übereinstimmend mit den tatsächlichen Urteilen des Moral- und Gerechtigkeitsempfindens der menschlichen Vernunft. Eine der beiden muss sich in dieser Frage jedoch zwangsläufig täuschen.

ATN: Worin besteht der Unterschied?

Luy: Die beiden Schulen führen die Verhältnismäßigkeitsprüfung unterschiedlich durch. Bei den Utilitaristen, die das „größte Glück der größten Zahl“ anstreben, kommt es nicht auf die Bewertung des Einzelnen an, sondern auf den größten kollektiven Nutzen. Anders bei den Deontologen, die eine Handlung dann als unmoralisch und nicht zu rechtfertigen betrachten, wenn sie sich aus der Perspektive des einzelnen Betroffenen als inakzeptabel darstellt. Während die deutsche Verfassung (das Grundgesetz) im zwischenmenschlichen Bereich ein deontologisches Ethik-Verständnis zum Ausdruck bringt („die Würde des Menschen ist unantastbar“), ist durch die Aufnahme des Staatsziels Tierschutz in Art. 20a GG insofern eine Inkonsistenz entstanden, als das dem Tierschutzgesetz zugrunde liegende Konzept des ethischen Tierschutzes bislang utilitaristisch interpretiert wird.

Widersprüchliches Grundgesetz

ATN: Wir haben also im Grundgesetz zwei sich widersprechende ethische Grundlagen, eine für das Tier und eine für den Menschen?

Luy: Ja, denn Utilitarismus und deontologische Ethik sind – logisch zwingend – unvereinbar miteinander. Es müsste eigentlich ein politischer Prozess in die Wege geleitet werden, der diese Inkonsistenz beseitigt. Wie die utilitaristische Verhältnismäßigkeitsprüfung aussieht, haben wir beim „vernünftigen Grund“ gesehen. Da von Utilitaristen die Vorteile für die größere Gruppe als wichtiger empfunden werden, gelten sie als Rechtfertigung für die Nachteile der kleineren Gruppe. Diese Nachteile werden von Utilitaristen deshalb als „nicht-unverhältnismäßig“ eingeschätzt. Die deontologische Verhältnismäßigkeitsprüfung wird demgegenüber aus der Perspektive des einzelnen Betroffenen durchgeführt. Nur wenn die Vorteile für jeden einzelnen Betroffenen die von ihm zu tragenden Nachteile aufwiegen, können die Nachteile einer Handlung als „verhältnismäßig“ gelten. Überwiegen auch nur für einen einzigen Betroffenen (Mensch oder Tier) die Nachteile, so gelten sie als „unverhältnismäßig“.

ATN: Worin liegt der Vorteil der deontologischen Prüfung?

Luy: Der deontologischen Verhältnismäßigkeitsprüfung liegt die Idee eines fairen Deals zugrunde, das heißt eines Handels, der eine Win-win-Situation dadurch herbeiführt, dass beide Seiten dem Deal mit seinen jeweiligen Vor- und Nachteilen zustimmen müssen, was nur dann stattfindet, wenn für beide Seiten die jeweiligen Vorteile größer sind als die Nachteile.

ATN: Ihren Aussagen zufolge enthält das Grundgesetz einen ethischen Widerspruch: Deontologische Ethik für Menschen und utilitaristische Ethik für Tiere. Da die beiden einander logisch ausschließen, ist der Zustand wissenschaftlich inakzeptabel; denn eine der beiden Verhältnismäßigkeitsprüfungen entspricht nicht dem Moral- und Gerechtigkeitsempfinden der menschlichen Vernunft.

Luy: Genau so ist es. Und das ist nicht die einzige Überraschung. Eine zweite Besonderheit des „vernünftigen Grundes“ besteht darin, die vegetarische Ernährung zu befördern.

ATN: Vegetarismus im Grundgesetz, geht das nicht ein bisschen weit?

Luy: Der Vegetarismus als Fernziel des deutschen Tierschutzgesetzes, und damit indirekt auch des Grundgesetzes, ergibt sich – ebenso wie das Fernziel der europäischen Tierversuchsrichtlinie 2010/63, langfristig auf Tierversuche zu verzichten – direkt aus dem Grundsatz der Erforderlichkeit. Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat dies 1986 einmal so erklärt: „Nicht jeder, nur ein vernünftiger Grund rechtfertigt gewisse Einschränkungen gegenüber dem Tier. Hier gilt es, nach strengen Maßstäben abzuwägen zwischen dem Schutzanliegen der Tiere und den Interessen des Menschen. Solange Tierversuche nicht grundsätzlich durch andere Untersuchungen abgelöst werden können, solange der Mensch Nahrungsmittel und andere tierische Erzeugnisse benötigt, wird der Gesetzgeber eine abgewogene Einschränkung des Schutzanliegens der Tiere bejahen müssen. Aus diesem Grundsatz ergibt sich, dass nach sorgfältiger Güterabwägung und bei Vorliegen eines vernünftigen Grundes das Wohlbefinden des Tieres in gewissem Umfange eingeschränkt werden darf.“

ATN: Wenn also Alternativen zu Tierversuchen und zu tierischen Nahrungsmitteln entwickelt werden würden, verwandelte dann der „vernünftige Grund“ die Erlaubnis zur Tiernutzung Ihrer Einschätzung nach in ein Verbot?

Luy: Ja. Aus der Logik des Grundsatzes der Erforderlichkeit resultiert, dass man den vorletzten Satz auch hätte folgendermaßen formulieren können: Sobald der Mensch keine vom Tier stammenden Erzeugnisse mehr benötigt, wird der „vernünftige Grund“ eine Einschränkung des Schutzanliegens der Tiere verneinen müssen. Praktisch bedeutet dies, dass mit zunehmendem Angebot an Fleisch- und Milchersatzprodukten – die Ersetzbarkeit von Leder, Fellen und Wolle steht ja längst außer Frage – die Wahrscheinlichkeit zunimmt, dass irgendwann einmal ein Gericht entscheidet, dass die Schlachtung von Tieren nicht länger erforderlich ist, um den Menschen ausgewogen zu ernähren bzw. mit Proteinen zu versorgen. – Spätestens an dieser Stelle wird, denke ich, der „vernünftige Grund“ zu einem Thema, das eigentlich alle Bürger interessieren müsste.

ATN: Herzlichen Dank für das Gespräch, Professor Luy.

Prof. Dr. Jörg Luy ist Fachtierarzt für Tierschutz und Philosoph. Bereits in seiner Dissertation beschäftigte er sich mit der Tötungsfrage in der Tierschutzethik. Von 2004 bis 2010 war er Juniorprofessor für Tierschutz und Ethik an der Veterinärmedizinischen Fakultät der Freien Universität Berlin und leitete dort bis 2013 das Institut für Tierschutz und Tierverhalten. 2013 gründete er das INSTET, ein privates Forschungs- und Beratungsinstitut für angewandte Ethik und Tierschutz mit Sitz in Berlin.

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ATN AG ist die im deutschsprachigen Raum führende Schule für Tierpsychologie, Verhaltenstherapie und Hundetraining. Sie ist die erste Schule, die reguläre Lehrgänge zu diesen Themen angeboten hat und ein anspruchsvolles Ausbildungskonzept besitzt.

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